Gefühle sind immer da. Sie sind unergründlich, schneller und mächtiger als Gedanken und gleichzeitig ein wesentlicher Bereich unserer Lebendigkeit und unseres menschlichen Lebens. Wenn wir jedoch nicht lernen, sie bewusst zu erleben und bewusst mit ihnen umzugehen – was für die meisten heutigen Erwachsenen und immer noch viele Kinder gilt – kann unsere automatische Reaktion auf Gefühle so aussehen: Wir versuchen, die unangenehmen, „schlechten“ Gefühle zu vermeiden, hängen an den angenehmen und sind uns der neutralen Gefühle unbewusst.
Dieses reaktive und meist unbewusste Verhalten begrenzt unsere Kapazität, aktiv für unsere Ausgeglichenheit und innere Balance zu sorgen. Es mindert unsere Lebendigkeit und Freiheit, mit der wir uns als Ganzes zum Ausdruck bringen – und begrenzt unsere Fähigkeit, uns selbst und andere als Ganzes zu akzeptieren und zu lieben.
Wie können wir achtsamer mit unseren Gefühlen werden?
Beginnen wir mit dem ersten Schritt: Lernen wir unsere Gefühle kennen. Werden wir neugierig und schauen tiefer hin. Das kann inneren Widerstand auslösen, weil viele von uns gelernt haben, ‚unangemessene‘, ‚unwillkommene‘ oder ‚belastende‘ Gefühle zu unterdrücken, zu entwerten oder zu ignorieren. Während diese Gefühle weiter da sind und im unbewussten Hintergrund unser Verhalten erheblich beeinflussen.
Achtsamkeit beginnt mit klarer Wahrnehmung
Um zu lernen, mit Deinen Gefühlen achtsamer umzugehen, kannst Du Klarheit üben: Nimm Trauer als Trauer, Schmerz als Scherz und Enttäuschung als Enttäuschung wahr. Benenne sie: „Oh, da ist Überraschung.“ „Das ist Freude.“ „Hier fühlt es sich wie Zufriedenheit an.“
Du kannst dabei allmählich wahrnehmen, dass Deine Gefühle in Wellen verlaufen, in aufsteigender und sinkender Intensität. Und je häufiger Du Deine Gefühle ohne Widerstand und in Klarheit beobachtest, wirst Du noch etwas erkennen: Du bist nicht Deine Gefühle. Gefühle und Emotionen sind Bestandteile Deiner ganzen Existenz. Gefühle selbst sind nie das Problem gewesen, das Du vielleicht glaubtest, mit ihnen zu haben. Deine Schwierigkeiten entstehen aus der Beziehung und Haltung, die Du zu Deinen eigenen Gefühlen entwickelt und eingenommen hast. Mitunter siehst Du sie als Bedrohung und Eure Beziehung ist durch Angst und sogar Feindschaft geprägt.
Mehr Raum für unsere Gefühle aufbauen
Wenn Du Deine Beziehung zu Deinen Gefühlen ändern und neu gestalten möchtest, kannst Du beginnen, Deinen Gefühlen mit einer freundlichen, für den Anfang mindestens neutralen Haltung zu begegnen. Auch den schwierigen, manchmal sehr intensiven und verunsichernden Gefühlen: Verlust, Neid, Eifersucht, Ärger, Wut.
Und gleichzeitig nimm auch die angenehmen, leichten, erfrischenden und stärkenden Gefühle bewusst wahr. Unsicherheit und Vertrauen sind genauso miteinander verwoben wie Freude und Trauer, Leichtigkeit und Schwere. Es gibt kein Licht ohne Dunkelheit, Erleichterung ohne Leiden. Gefühle sind wie Wellen in einem Fluss, immer in Bewegung und Veränderung, in Verbindung miteinander, oft auch gleichzeitig auftauchend.
Wenn wir uns unserer Gefühle nicht bewusst werden, können wir in der Identifikation mit ihnen, der Angst vor ihnen oder im Kampf gegen sie verloren gehen. Beides kostet viel Energie und erzeugt Leiden und Trennung in uns selbst. Wenn es uns jedoch gelingt, mehr und mehr Raum in unserem Bewusstsein aufzubauen, in dem wir unsere Gefühle mit Klarheit und Mitgefühl für uns selbst halten und erfahren können, dann können wir Wesentliches erkennen: Sie sind markante Teile des großen Ganzen, das wir sind. Sie kommen und gehen.
Und Gefühle weisen uns nicht selten auf etwas hin, das in uns aus dem Gleichgewicht geraten ist: Dysbalancen, Ungerechtigkeiten, Unmäßigkeit, Unwahrheiten, Grenzverletzungen. So bringt die Wut oft etwas Wahres mit sich, kann aber gleichzeitig zu verzerrter Wahrnehmung führen. Liebe lässt uns Unsichtbares wahrnehmen und vermag Offensichtliches zu ignorieren.
Größe und Freiheit durch eine neue Beziehung zu unseren Gefühlen
Mit der Zeit können wir achtsamer mit unseren Gefühlen und uns selbst als fühlenden Wesen werden. Wir werden stabiler geerdet in einer grundsätzlich freundlichen Ausrichtung auf unser Innenleben. Und wir verinnerlichen, dass wir weder begrenzt noch definiert werden durch auftauchende und verklingende Gefühle.
Es liegt eine besondere Größe, Verletzlichkeit und ein stiller Mut darin, wenn wir uns bewusst öffnen für die Berührung durch unsere Gefühle, in ihrem ganzen Ausmaß, der Entschlossenheit wie der Furcht, der Scham wie der Zärtlichkeit, und der immensen Liebe, die jede/r von uns in sich trägt. Auf diesem Weg werden wir immer mehr zum/zur liebevollen, wohlwollenden und wissenden Beobachter/in von uns selbst. Hier wartet unsere eigene innere Freiheit auf uns.